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Bernhard Flieher: Das Fahrrad, mit Illustrationen von Hanna Zeckau, Salzburg / Wien: Residenz Verlag, 2024 (= Dinge des Lebens), ISBN: 978-3-7017-3608-9, 64 Seiten, 15,00 € 

Rezension von Markus Henning 

 
Auch im Mobilitätsbereich fußt ein gutes Leben auf der Fähigkeit zur Selbstbegrenzung. Sie setzt dem Getrieben-Sein durch Tempodruck und Automobilismus eine bewusste Handlungsauswahl entgegen, besinnt sich auf das Genügende und küsst seine Potentiale wach. Das zielt auf die Revitalisierung nahräumlicher Strukturen. Das fordert einen sozial-ökologischen Ausbau öffentlichen Verkehrs. Und das umfasst die Wiederentdeckung menschlicher Fortbewegung aus eigener Muskelkraft.
 
An deren pedalbetriebene Variante hat der Residenz Verlag jetzt eine Liebeserklärung veröffentlicht. Erschienen ist sie in der Reihe Dinge des Lebens, verfasst wurde sie von Bernhard Flieher (geb. 1969). 
 
Flieher ist nicht nur Kulturredakteur bei den Salzburger Nachrichten, er ist auch Radler aus Leidenschaft. In Das Fahrrad lässt er beide Passionen einfließen und schöpft aus eigenem Lebensmaterial: Aus der Freilegung von kulturgeschichtlich Verschüttetem ebenso wie aus der Vergegenwärtigung des unmittelbar Beteiligten. Genau dadurch verleitet uns sein Essay zu einem Sichtwechsel im Vertrauten. Er öffnet unseren Blick für das Unerwartete und das Eigensinnige, für das Anfängliche und für das Utopische des Fahrradfahrens. 
 
 1) Sanfte Technologie. Ein rautenförmiger Rahmen verbindet zwei gleich große Räder. Lenker, Sattel und Pedale sind in einer Dreieckskombination positioniert. Der Kettenantrieb wirkt auf das Hinterrad. Diese bis heute unveränderte, weil kräfteökonomisch unübertroffene Gestalt läutete Mitte der 1880er Jahre die Fahrradmoderne ein. Ihr Geburtsort war das britische Birmingham, an ihrer Wiege aber stand die Internationalität länderübergreifenden Tüftelns. Innovationsgeschichtlich lässt sich das Fahrrad als letzte große Erfindung einer Technik markieren, die im Einklang mit Mensch und Natur steht. Ein denkbar einfacher, durchschau- und beherrschbarer Apparat, mit dem man sich selbst voranbringt, ohne fremde Ressourcen zu vergeuden. Wahrer Enthusiasmus greift auf individuelle Rahmengestaltungen zurück, an derer Ende die perfekte Einheit zwischen Rad und Besitzer:in steht. Darüber schwebt der Geist alles Seltenen und Schönen. Aber auch für weniger gehobene Ansprüche ist die eigene Fahrradwerkstatt nicht selten Rettungs- und Rückzugsort. Hier kann in leiser Melancholie an verletzter Liebe gearbeitet werden. „Das Fahrrad ist das Paradies, aus dem der Mensch durch die Motorisierung und später die Digitalisierung der Maschinenwelt vertrieben wurde“ (S. 11). 
 
 2) Philosophie und Ästhetik. Dem Rationalismus und seinem Diktat der Zwecke gibt das Radeln ein Rätsel auf. Was auf dem Sattel zählt, ist nicht das äußere Ziel. Schön und erfüllend sind die bloße Bewegung, das Geschmeidige, die Unaufhaltsamkeit – Magie der Ebene, Marter des Anstiegs. Freudvoll Ausfahrenden begegnet das Glück gerade deshalb, weil sie im Treten von Pedalen die Fremdbestimmung transzendieren und ihren eigenen Sinn erzeugen. Philosophische Patenschaft findet sich im Existentialismus. Jean-Paul Sartre (1905-1980), Simone de Beauvoir (1908-1986) und Albert Camus (1913-1960) vertreten die Idee autonomer Selbsterschaffung. Es geht um Ausreißversuche, um Sprengung der Alltagsfassade, um Bedeutungserfahrung. „Die Bewegung auf dem Rad wird den Pedaleuren gleichsam zum Felsbrocken des Sisyphos. Jenes Sisyphos, von dem Camus schreibt, man müsse ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen" (S. 46). Das ist von ästhetischer Strahlkraft. Bei Radrennen wird von fließenden Linien und schön gezeichneten Kurven geschwärmt. Werke wie der Tête de taureau, ein von Pablo Picasso (1881-1973) aus Lenker und Sattel gestalteter „Stierkopf“, gehören zum Kanon bildender Kunst. Die Popkultur macht Avancen. Zur Melodie von Raindrops Keep Fallin’ on My Head radelt Paul Newman (1925-2008) durch die Western-Komödie Butch Cassidy and the Sundance Kid. Weltberühmte Bands stimmen Elogen an: „How could I forget to mention, the bicycle was a good invention“ (Red Hot Chili Peppers, zit. in: S. 10). Bei den Elektro-Pionieren von Kraftwerk wird die Tour de France zum Tanz von Mensch, Gefährt und Ungebundenheit. Den Freiheitsdrang der Radelnden besingt Freddy Mercury (1946-1991): „I want to ride it where I like“ (zit. in: S. 14). 
 
 3) Revolution. Vor dem Umkippen schützt nur die Vorwärtsbewegung. Dieses Grundprinzip teilen Fahrradfahren und Emanzipationsbestreben. Als erstes verstehen das die Frauen. Bereits 1896 betont Susan B. Anthony (1820-1906), dass das Fahrrad mehr zu weiblichem Empowerment beigetragen habe, als irgendetwas sonst auf der Welt. Kurz zuvor ist Anna Cohen Kopchovsky (ca. 1870-1947) als erste Frau rund um den Globus geradelt. Die Arbeiter:innen-Bewegung macht das Zweirad zum Vehikel im Klassenkampf. Die neue Beweglichkeit revolutioniert die Stadtplanung. Während des Zweiten Weltkriegs transportiert das Fahrrad Widerstand. Gino Bartali (1914-2000) ist italienisches Rad-Idol. Bereits zweimal hat er den Giro d’Italia, einmal die Tour de France gewonnen. Die perfekte Tarnung für antifaschistische Kurierfahrten: „Wer kontrolliert in Italien schon einen Campionissimo?“ (S. 22). Vernetzt mit der Untergrundbewegung für jüdische Emigration füllt Bartali den Rahmen seiner Rennmaschine mit Dokumenten zur Passfälschung und pendelt regelmäßig durchs Land. Seine vermeintlichen Trainingsetappen retten 800 Menschen das Leben. Zum Inbegriff der Souveränität wird das Fahrrad in den Niederlanden. Ab 1940 beschlagnahmen die deutschen Besatzer dort vier Millionen Räder. Zu denjenigen, die unter Lebensgefahr gegenhalten, gehören die Schwestern Truus und Freddie Oversteegen (1923-2016 bzw. 1925-2018). Sie werden Teil des bewaffneten Widerstands und kämpfen radelnd gegen die nationalsozialistische Terrorherrschaft. 
 
4) Dynamik. Nicht der Welt, sondern ihren störenden Zwängen kehren Radelnde den Rücken zu. Das Spiel mit den Elementen, der Luftzug als Gegner und Verbündeter, die eigene Schutzlosigkeit schärfen Sinne und Konzentration auf das Außen. Deswegen ist jede Fahrt eine Premiere. Wie beim allerersten Mal führt sie ungeahnten Zukünften entgegen. Selbst vertraute Umgebungen fühlen sich immer wieder neu an. „Auf dem Rad wird man zum Landstreicher, offen und anfällig für Begegnungen, für zufällige Gespräche an Kreuzungen, für Plaudereien auf Dorfplätzen, wenn man den Weg sucht“ (S. 35). In der Bewegungsdynamik selbst findet sich das passende Zusammenspiel von Pedaltritt, Gewichtsverlagerung, Kipp- und Lenkmoment. Gegensätzlich zu anderen Geräten funktioniert das Fahrrad mit zunehmender Geschwindigkeit immer stabiler. Je schneller es fährt, desto selbstverständlicher halten sich Balance und Leichtigkeit. Einmal gelernt, verliert sich dieses Gespür nie wieder. Von daher lässt sich das Fahrradfahren vielleicht am ehesten mit einer anderen großen Kulturleistung vergleichen: „Es ist wie beim Lesen. Man beginnt mit Buchstaben, dann formen sich Wörter. Und dann beginnt der Sog. Mit jedem Wort gewinnt man einen besseren Überblick, ahnt, wohin es einen führen wird. Aus Wörtern werden Sätze, aus Vorstadtrunden werden Tagesausflüge. Man beherrscht die Technik. Man kann sich dem Sog, mit dem es einen in die Zukunft frischer Gedanken reißt, nicht entziehen. Man zieht mit. Man lässt sich mitziehen. Und wenn dann noch einer da ist, der einem Windschatten gibt, löst sich die Welt in Freiheit auf“ (S. 57). 
 
 Bernhard Flieher schreibt auf eine Weise über das Leben, die taugt, es zu verändern. Sein Essay Das Fahrrad wirkt wie eine Kur, die uns vom Eingerasteten befreit. Sie macht uns bereit zur nächsten Bewegung, zur Ausfahrt auf weiter Straße. Das ist wichtiger denn je. Denn in zu engen Gassen wachsen enge Anschauungen.
 
Gestaltung und Illustrationen von Hanna Zeckau (geb. 1978) machen dieses kurze, großzügige Buch zum bibliophilen Kleinod. Unser Tipp: Unbedingt lesen!

 

 

 

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