Initiative für

natürliche Wirtschaftordnung

Standpunkte, Entwicklungsgeschichte und Aktualität der Katholischen
Soziallehre anhand ausgewählter Beispiele aus Österreich.

von Christof Karner

Der bedeutende Dichter Joseph v. Eichendorff sagte einmal, angesprochen auf die Zeitstimmung: „Die totale Umkehr, die umfassendste Reaktion gegen jene flaue Neutralität im Leben und Lebenlassen, der positive Katholizismus gegen die Vernunftreligion der Aufklärung, war eben die Seele der neuen Romantik.“

Eichendorff beschreibt damit eine Situation am Beginn des 19. Jahrhunderts, in der sich zwei konträre geistige Strömungen gegenüberstanden: auf der einen Seite die durch rationalistische Philosophien geprägte „Moderne“ und auf der anderen Seite der Konservativismus bzw. die „politische“ oder „soziale“ Romantik als kritischer Gegenentwurf. Im weiteren Verlauf schlug die Katholische Soziallehre in eben diesem antimodernistischen Substrat ihre geistigen Wurzeln und entwickelte, inspiriert und herausgefordert durch die so genannte „Soziale Frage“ als Begleiterscheinung des liberalkapitalistischen industriellen Wirtschaftens, ihre spezifischen Programmatiken.

Die Betrachtung der europäischen Gesellschaftsgeschichte macht deutlich, dass tief greifende sozioökonomische Veränderungen das ausgehende Mittelalter und die frühe Neuzeit kennzeichneten. Der Wandel der Lebensumstände begleitete eine zunehmende Aufweichung traditioneller Ordnungs- und Machtverhältnisse, die mit den Platz greifenden naturwissenschaftlich-materialistisch, aber auch individualistisch geprägten Denk- und Werthaltungen befördert wurden. Die etablierten Feudalautoritäten wie Krone, Adel und Kirche sahen sich den bürgerlich motivierten Emanzipationsbestrebungen, Säkularisierungstendenzen und schließlich revolutionären Umbrüchen ausgesetzt.

In einer retrospektiven Bilanz kamen nicht wenige Gesellschaftsphilosophen des beginnenden 19. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass die unter dem Einfluss der rationalistisch geprägten „Moderne“ stehende geistige und soziale Entwicklung Europas schweren Schaden genommen habe. Die Ereignisse der französischen Revolution und der nachfolgenden napoleonischen Kriege, vor allem aber die gesellschaftliche Veränderungen als Begleiterscheinung der Industrialisierung musste insbesondere in den konservativ gesinnten Kreisen als kollektives Schockerlebnis empfunden werden. Begünstigt durch den politischen Zeitgeist gelang es namhaften Publizisten, eine Rückkehr zu prämodernen Gesellschaftsverhältnissen zu propagieren. Diese Tendenz bewirkte eine forcierte Idealisierung und Romantisierung des Hochmittelalters (11./12. Jh.), dem ein Modellcharakter für zukünftige Gemeinschaften unter Einbeziehung der gegenwärtigen Lebensrealitäten beigemessen wurde. Eindringlich betonte man das Leitbild einer ständisch gegliederten Gesellschaft, von der konservative Theoretiker überschaubare Rechtskompetenzen, gerechte Pflichtenverteilung, Stabilität und ein individuelles Geborgenheitsgefühl erwarteten. Im Hinblick auf eine Überwindung liberalkapitalistischer Wirtschaftspraktiken gewann die Option einer bedarfsdeckenden, korporativ organisierten Genossenschaftswirtschaft, wie sie in den städtischen Zunftbetrieben des Mittelalters ausgeprägt war, viele Fürsprecher. Nicht zufällig wurde die Residenzhauptstadt Wien zum Zentrum konservativer Intellektuellenzirkel, galt doch das Habsburgerimperium seit jeher als Symbol für Dauerhaftigkeit und Hort traditioneller Werte. Der „Wiener-Kreis“ beispielsweise, getragen von Persönlichkeiten wie Klemens Maria Hofbauer, Friedrich Schlegel, Adam Heinrich Müller, dokumentierte akribisch die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats, verurteilte die Aufklärungsphilosophie als geistiges Irrlicht der Moderne und beschwor das Ideal eines fürsorglichen mittelalterlichen Ständewesens.

Es war aber schließlich die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer virulenter werdende Soziale Frage, die das zur Entfaltung brachte, was später als Katholische Soziallehre bezeichnet wurde. Die gnadenlose Ausbeutung des Proletariats sowohl am Arbeitsplatz als auch bei den Wohnverhältnissen trieb nun katholische Laien und Kleriker verstärkt dazu, die christlichen Postulate von Nächstenliebe und Gerechtigkeit in Einklang mit dringend gebotenen reform-ökonomischen Überlegungen zu bringen.

In Deutschland forderte der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel v. Ketteler einen staatlich garantierten und gewerkschaftlich abgesicherten Schutz der Arbeiterschaft vor unternehmerischer Willkür, und in Österreich setzte Karl v. Vogelsang auf eine Totalreform der Gesellschaft und Wirtschaft.

Letzterem verdankt die Katholische Soziallehre tiefe Einblicke in die liberalkapitalistischen Kausalitäten, die er durch die Allmacht des Kapitals über Menschen und Güter in der zinsfordernden Pervertierung des Geldwesens und dem Missbrauch von Privateigentum zu erklären vermochte.

In der österreichischen Zwischenkriegszeit prägten sich zwei Richtungen des Sozialkatholizismus aus. Vor der Kulisse des politischen und sozioökonomischen Krisenszenarios der 1. Republik offenbarten sich zwischen diesen erhebliche Auffassungsunterschiede hinsichtlich des Kapitalismus im Allgemeinen und seiner bestimmenden Elemente im Besonderen.

Als wahrer „Apologet“ Vogelsangs erwies sich der Soziologe Anton Orel, der in publizistischer Vielfalt die menschliche Arbeit zum alleinigen wertbestimmenden Faktor erhob, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums einmahnte und für eine Erneuerung des Zinsverbotes eintrat. Durch Orels Einfluss auf andere sozialkatholische Programmatiker wie Ernst Karl Winter, Joseph Eberle, Johannes Kleinhappl u.v.a. gewann diese „Vogelsang-Schule“ markante kapitalismuskritische Konturen.

Gänzlich andere Ansichten wurden z. B. von Johannes Messner oder Josef Dobretsberger aus dem universitären katholischen Umfeld vertreten, die dem Kapitalismus durch seine vermeintliche fortschrittsstimulierende und wohlstandsverbreitende Wirkung auch positive Facetten abzugewinnen vermochten.

Ein heftiger verbaler Schlagabtausch in diversen einschlägigen Zeitschriften, begleitet von Interventions- und Disziplinierungsmaßnahmen der Amtskirche, waren die Folge.

Mit den Enzykliken „Rerum novarum“ von 1891 und „Quadragesimo anno“, ediert im Jahr 1931, hatten die Päpste zwar am liberalkapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem massive Kritik geübt, aus ihrer strikten Ablehnung von jeder Art sozialistischer Bestrebungen aber ebenso wenig ein Hehl gemacht. Daher distanzierte sich die Amtskirche sehr deutlich von sozialreformerischen Avancen, insbesondere dann, wenn sie mit dem von Vogelsang geprägten Begriff „christlicher Sozialismus“ einhergingen.

Anton Orel war es wiederum, der dieses Schlagwort seines „geistigen Ziehvaters“ bereitwillig aufgriff und mit den gegensätzlichen Begriffspaaren „römisch-heidnisch“ bzw. „germanisch-christlich“ zu einer publizistischen Kampfrhetorik aufrüstete. Die Bezeichnung „römisch-heidnisch“, bezogen vor allem auf die Eigentumsverhältnisse, sollte eine begriffliche Fokussierung auf jene durch die „Moderne“ herbeigeführte Fehlentwicklung zum Ausdruck bringen, welche die romantisch beeinflusse sozialreformerische Richtung der Katholischen Soziallehre im Kapitalismus zu erkennen glaubte: Der von der Arbeiterschaft geschaffene, ihr aber vorenthaltene „Mehrwert“, der uneingeschränkte und damit ausbeuterisch wirkende Privatbesitz, an Produktionsmitteln und Boden etwa, insbesondere aber die leistungslose Profiquelle „Zins“ standen im Kreuzfeuer der Kritik. Andererseits sollte der Ausdruck „germanisch-christlich“ jenen reformerischen Perspektiven Rechnung tragen, die mit den Forderungen nach Sozialpflichtigkeit jeglichen Eigentums, dem strikten Zinsverbot und den ständisch-korporativen Gesellschaftsmodellen anvisiert wurden.

Eine äußerst interessante Position bezog der an der Grazer Universität wirkende Universalgelehrte und Priester Johannes Ude (1874-1965). Auf dem moralischen Fundament der Erkenntnisse Vogelsangs schuf er durch die Adaptierung der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell, der fundamentalchristlichen Interpretation des Lebensreformgedankens und der Friedensethik ein reformökonomisches Konzept, das – mit Abstrichen – unter den heutigen apokalyptischen Vorzeichen eine denkwürdige Aktualität erhält.

Jedenfalls eröffnete sich für die eher utopistischen sozialkatholischen Visionen mit Udes Festlegung auf die freiwirtschaftliche Reformformel „FFF“ – „Freigeld“ als umlaufgesichertes, zinsloses Tauschmittel, „Festwährung“ als krisenresistente Geldmengensteuerung und „Freiland“ als sozialisiertes Bodenbesitz-, aber privatwirtschaftliches Nutzungsrecht – ein realistisches Instrumentarium zur Überwindung des Kapitalismus. Auch die gegenwärtige Vereinslinie der INWO-Österreich verfolgt diesen Weg.

Der Fall Ude macht aber auch deutlich, dass die katholische Amtskirche, von zeitgeistig getragenen Regungen abgesehen, nicht gewillt war, einer grundsätzlichen Systemkritik näher zu treten. Mit Schreib- und Redeverboten bzw. mit Relegierungsmaßnahmen knebelte man Ude und stilisierte ihn zum „einsamen Rufer in der kapitalistischen Wüste“.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der bleibende Wert der Katholischen Soziallehre in der präzisen Analyse des Kapitalismus besteht, die durch ihre ethische Lauterkeit mehr zum Verständnis beiträgt, als dies so manch anderes gesellschaftskritisches Schrifttum je zu leisten im Stande war.

Deutliche Distanz ist hingegen angebracht, wenn es um die gesellschaftspolitischen Implikationen geht. Ständestaatliche bzw. berufsständische Präferenzen, von denen sich vor allem der österreichische Sozialkatholizismus nie wirklich lösen konnte, beinhalten in letzter Konsequenz ein autoritäres Gepräge, das – einmal mehr mag dies die Zwischenkriegszeit belegen – allenthalben zu menschenunwürdigen konservativ-faschistoiden politischen Experimenten geführt hat. Freilich gab es hierfür noch andere wegbereitende Elemente. Es sei in dem Zusammenhang auf den so genannten „Universalismus“ eines Othmar Spann verwiesen, dessen Lehre, wohl nicht zufällig, im Milieu des politischen Katholizismus und damit auch in der Katholischen Soziallehre eifrig rezipiert wurde. Als besonders fatal sind jene antisemitischen Verbalinjurien zu verurteilen, die in der katholischen Kirche allgemein latent, bei einigen Sozialprogrammatikern offen zu Tage traten. Wenn auch die Ausritte gegen Finanzjudentum, Schieber und Spekulanten aus den damaligen Zeitumständen erklärbar sein mögen, so entbindet das den Katholizismus nicht, angesichts der industriell durchgeführten Massenvernichtung von Menschen, eine zumindest mentale Mitverantwortung zu übernehmen.

Konservative Parteienbewegungen haben heute ihre Seele den neoliberalen Wirtschaftsdogmen verschrieben, und sozialdemokratisch gesinnte Gruppierungen agieren völlig hilflos im Umgang mit den sich anhäufenden vielfältigen Problemen der Gegenwart. Eingedenk dieses Zustands gewinnt die Katholische Soziallehre an Bedeutung, weil sie in sich richtige Grundsätze anzubieten hat, aus denen heraus reformökonomische Modelle für die Zukunft entwickelbar sind.

Ein Beispiel, wie ein moderner Sozialkatholizismus heute aussehen kann, hat Adolf Paster, Präsident der ARGE „Fraternität – Hifa – INWO“, in Form seiner Broschüre „3-5-4“ vorgelegt. Diese Programmschrift besticht durch ihre Prägnanz, inhaltliche Schlüssigkeit und das eindeutige Bekenntnis zu demokratischen Strukturen. Jene „3 Grundsätze für alle“, „5 ethischen Imperative“ und „4 staatlichen Rahmenbedingungen“ bieten ein Konzentrat von Adolf Pasters jahrzehntelanger inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Fehlentwicklungen des Kapitalismus und seinen vielfältigen Erfahrungen aus der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Schon allein deshalb verdient dieses Gedankenkompendium, als Programm-Manifest der INWO-Österreich bezeichnet zu werden.

Die Entfaltungsmöglichkeiten für eine auf Gerechtigkeit und sozialer Wahrheit beruhende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung werden zusehends enger. Soll auch nachfolgenden Generationen ein erträgliches Dasein auf diesem Planten zuteilwerden, muss mit der Illusion einer Instrumentalisierbarkeit des Kapitalismus gebrochen werden. Wie hat es Johannes Ude doch so treffend formuliert: „Die kapitalistische Wirtschaftsordnung können wir nicht verbessern, wir sollen und können sie nur vernichten.“

 

 

 

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