Arbeitsautonomie in digital entgrenzten Zeiten

Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 73 / Nr. 46 – 11. November 2023, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, ISSN: 0479-611 X, 46 Seiten, Thema: New Work (Open Access im PDF-Format) 

Zeitschriftenrezension von Markus Henning

Der Abgrund, der sich in den multiplen Krisen der Gegenwart auftut, verweist uns auf die Notwendigkeit eines Neubeginns. Dazu müssen wir zuallererst im Jetzt und seinen Veränderungsoptionen ankommen. Wir müssen lernen, uns in der Wirklichkeit zurechtzufinden, ohne uns ihr zu verschreiben. Nur über Wissen um das Alte können wir zur emanzipatorischen Gestaltung des Neuen gelangen. 

Einer der wichtigsten Erfahrungsräume sozialer Realität ist zweifellos die Arbeitswelt. In ihrer Ausgestaltung verschränken sich wirtschaftliche und technische Dynamiken mit Herrschaftsverhältnissen über Menschen und Natur. Eingebunden in den makroökonomischen Formationswechsel zum globalen Finanzmarktkapitalismus sind die Arbeitsbeziehungen seit Jahrzehnten einer tiefgreifenden Erosion ausgesetzt. Sie birgt erhebliche Risiken, nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes: Die Eskalation sozialer Spaltungen durch die anhaltende Reallohnkrise und Prekarisierung weiter Bevölkerungsteile bereitet den Boden für Demokratieverdrossenheit und politisch interessierte Sündenbocksuche, was wiederum die Tendenzen zu Autoritarismus und neofaschistischer Massenmobilisierung verstärkt.

Dem Strukturwandel der Erwerbsarbeit, seinen Implikationen und möglichen Ansätzen einer vorwärtsweisenden Arbeitsutopie hat die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) ein Themenheft gewidmet. Seine insgesamt sieben Beiträge, die von der Redaktion im Rahmen eines Call for Papers zusammengestellt wurden, entfalten ein weitgefächertes Spektrum von Herangehensweisen und Perspektiven. Die unterschiedlichen Disziplinen, denen die Autor:innen entstammen, reichen von der Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, über Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Arbeitssoziologie und Digitalisierungsforschung bis hin zu Pädagogik und Politologie. Das Interdisziplinäre der Auswahl meidet die Fallstricke ökonomistischer Engführung und zieht uns hinaus aufs offene Gedankenmeer ganzheitlicher Analysen. 

Was ihre inhaltliche Vielfalt als Diskursklammer zusammenhält, ist der gemeinsame, wenn auch je eigenständig gehandhabte Bezug auf die titelgebende New Work-Bewegung. Deren Begründer war der Sozialphilosoph und Anthropologe Frithjof Bergmann (1930-2021). Vor dem Hintergrund technologiebedingter Entlassungswellen in der US-amerikanischen Automobilindustrie hatte Bergmann bereits seit den 1970er Jahren einen Gegenentwurf zum kapitalistischen, aber auch zum staatssozialistisch-kommunistischen Arbeitsmodell propagiert und mit langem Atem in kooperativen Projekten experimentell erprobt. Seine hierauf aufbauende Vision einer dezentralisierten, von Wachstumszwang und fossilem Rohstoffverbrauch befreiten Wirtschaft beschreibt die übergeordneten Ziele einer neuen und humanistischen Arbeitskultur. Kleine, in die Vielfalt der Regionen eingebettete Produktionswerkstätten könnten das Vernetzungspotential digitaler Technologien nutzen, um Hierarchien überflüssig zu machen und das System der Lohnarbeit durch horizontal-solidarische Beziehungen zu ersetzen. „Die vielfältigen Formen des Tätigseins werden hier als Möglichkeit begriffen, sich aus starren gesellschaftlichen Strukturen zu befreien, sich selbst und seine Talente zu entdecken und zu entfalten. […] New Work soll […] die Menschen ermächtigen, sie (wieder) in ihre eigene Lebendigkeit hineinführen und nicht nur ein ‚Zahlungsmittel‘ für den Erhalt der eigenen Existenz sein“ (Bettina-Johanna Krings: New Work und die Zukunft der Arbeit, S. 4-9, hier: S. 7). 

Was Frithjof Bergmann in den Fokus arbeitsorganisatorischer Gestaltungsansätze rückte, waren die Individuen mit ihren konkreten Bedürfnissen nach Selbstbestimmung, Sinn, Glück und Schönheit. Das machte sein evolutionär angelegtes Wandlungskonzept bedeutsam und populär. In paradoxer Verzerrung seiner ursprünglich emanzipatorischen und kapitalismuskritischen Intention bot es aber auch Anknüpfungspunkte für neoliberale Managementstrategien.

Schon seit den 1980er Jahren lassen sich Unternehmenskulturen und Methoden der Personalführung beobachten, die verstärkt an intrinsischen Motivationslagen ansetzen, um durch direkte Weitergabe von Markt- und Kundendruck an die Beschäftigten Kosten zu senken und extraproduktives Arbeitsverhalten auf Dauer zu stellen. Hierzu gehören top-down verordnete, teilautonome Organisationsmodelle ebenso wie Maßnahmen zur Abflachung von Hierarchien bzw. zur Eröffnung zusätzlicher Handlungsspielräume für Individuen und Teams in neuen agilen Arbeitsformen (vgl. Friedericke Hardering: New-Workisierung von Arbeit. Zeitdiagnose zum Wandel der Arbeitswelt, S. 29-34). 

Dabei hat die Instrumentalisierung partizipativer Elemente längst über die Sphäre des Betriebs hinausgegriffen. Sie ist zum Imperativ einer Kultur der eigenverantwortlichen Selbstoptimierung geworden. In ihr hat sich der „homo oeconomicus“ neoklassischer Wirtschaftstheorie zum modernen „Arbeitskraftunternehmer“ ausgewachsen, der seine professionellen mit seinen privaten Lebensansprüchen „produktiv“ zu verschmelzen hat (vgl. Jason Lemberg: Selbstverwirklichung im Beruf. Zur Geschichte eines Mythos, S. 41-46).

Welch anmaßende Übergriffigkeit, welch Ambivalenzen, Unsicherheiten und Verwundbarkeiten dieser Entwicklung eingeschrieben sind, tritt ganz besonders im Kontext der Digitalisierung und ihrer spezifischen Rationalisierungs- und Automatisierungsdiskurse zutage. Davon ist bei weitem nicht nur der Dienstleistungsbereich mit seinem Modell des Homeoffice als dominanter Form digitalisierter und mobiler Arbeit betroffen. Die digitale Neuorganisation erfasst tendenziell alle Sektoren. „Beschäftigte in der Industrie nutzen verstärkt digital angereicherte Arbeitsmittel – vom smarten Handheld über Vitual-Reality-Brillen bis hin zu autonom und kollaborativ arbeitenden Robotern. In der Logistik sind automatische Routenplanung, digitale Empfangsbestätigungen oder GPS getrackte Fahrzeuge kaum wegzudenken“ (Samuel Greef / Wolfgang Schroeder: Ende der kollektiven Interessenvertretung? New Work als Herausforderung für Gewerkschaften und Betriebsräte, S. 35-40, hier: S. 36). 

Hinter der schillernden, sinnverdrehten New Work-Fassade dieser digitalen 24/7-Welten manifestieren sich neue Abhängigkeiten und Zwänge. Digitale Überwachungs- und Kontrollregime erhöhen Belastungsfaktoren wie Arbeitsintensität, Termindruck und Erreichbarkeit. Die zeitlich-räumliche Entgrenzung von Arbeit geht einher mit der Auslagerung von Aufgaben in die digitale Plattformökonomie und der Überführung von Beschäftigten in den deregulierten Status von Soloselbstständigen. Während Sozialstandards sich verschlechtern, steigt die Häufigkeit stressbedingter Krankheiten. „Die Entwicklung der Unzufriedenheit im Berufsleben in Deutschland wurde 2022 durch eine Forsa-Umfrage beleuchtet. Demnach stieg die Unzufriedenheit von 25 Prozent 2021 auf 37 Prozent 2022“ (Gregor Ritschel: Pragmatische Arbeitsmoral? Die Social-Media-Trends Quiet Quitting und Tang Ping, S. 23-28, hier: S. 26).

Dabei ist unbestritten, dass digitale Arbeitsinstrumente nicht nur körperliche Entlastung und Qualifikationszuwächse bieten, sondern auch echte Freiräume öffnen könnten für Entschleunigung und eine gelingende Work-Life-Balance. Für die einübende Verwirklichung dieser Chancen im betrieblichen Alltag – hierin stimmen die Autor:innen ebenfalls überein und dies ist aus Perspektive der Freiwirtschaft von besonderem Interesse – schafft der finanzmarktkapitalistisch induzierte Rentabilitätsdruck allerdings ein grundsätzlich ungünstiges Milieu (vgl. Hans-Jürgen Urban: New Work zwischen Entgrenzung und Empowerment, S. 17-22). 

Um die Humanisierungspotentiale der Digitalisierung im Sinne von Frithjof Bergmann wach zu küssen, wäre also nicht zuletzt an den strukturellen Rahmenbedingungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs anzusetzen. Das auf den deutsch-argentinischen Kaufmann und Ökonomen Silvio Gesell (1862-1930) zurückgehende Projekt einer freiwirtschaftlichen Geld- und Bodenreform könnte hierzu einen systemischen Beitrag leisten: Gesell schlug vor, das allgemeine Tauschmittel durch eine periodisch anfallende Haltegebühr den nichthortbaren Waren gleichzustellen und damit als umlaufgesichertes „Freigeld“ effektiv mengensteuerbar zu machen. Ergänzt durch eine pächtersozialistische Vergesellschaftung von Grundstücken, Bodenschätzen und Naturressourcen – „Freiland“ – würden sich im Ergebnis die von den Marktteilnehmern zu erwirtschaftenden Kreditzinsen mittelfristig auf einen Satz von null Prozent einpendeln. Dass damit ein wichtiger Wachstumstreiber neutralisiert wäre, brächte nicht allein den bestehenden Unternehmen Entlastung, es würde auch kooperative Neugründungen erleichtern und einer emanzipatorischen Ausgestaltung der Arbeitswelt innovative Möglichkeiten eröffnen.

Umgekehrt sollte sich aber auch der freiwirtschaftliche Diskurs für die New Work-Thematik öffnen. Allein schon, um die arbeitsutopische Sprachlosigkeit zu überwinden und seine potentiellen Ansprechpartner:innen dort abzuholen, wo sie ihre prägenden Alltagserfahrungen machen. 

Die Lektüre der hier besprochenen Zeitschrift bietet eine hervorragende Gelegenheit. In ihren Beiträgen wird greifbar, dass niemals nur die Technik, sondern immer auch machtbasierte Transformationskonflikte über die Entwicklungsrichtung von Arbeit und Arbeitsbeziehungen entscheiden (vgl. Michael Homberg / Mirko Winkelmann: Home is where the office is. Zur Geschichte der Telearbeit, S. 10-16).

Die New Work-Ausgabe Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) schlägt auf vorbildliche Weise eine Brücke zwischen den Fakten, den Handlungsoptionen der Akteure und dem, was kommen wird. Wir wünschen ihr viel Erfolg und weite Verbreitung. 

Nach oben scrollen