Stella Schaller / Lino Zeddies / Ute Scheub / Sebastian Vollmar: Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen, hrsg. v. Reinventing Society, München: oekom verlag, 2023, ISBN 978-3-96238-386-2, Hardcover, 176 Seiten, 83 Fotografien, 33,00 €
Rezension von Markus Henning
Wer zu neuen Ufern aufbrechen will, muss die Routen des Bestehenden hinter sich lassen. Die linear-kausalen Fahrpläne einer auf Herrschaft, Kapitalverwertung und Wachstumszwang getrimmten Welt führen nicht weiter. Sie verstellen uns den Blick für mögliche Pfade in eine Zivilisation, die im Gegensatz zur heutigen in der Lage wäre, das langfristige Überleben der Menschheit zu sichern.
Um zu erahnen, wo die Reise langgehen soll, haben wir zuallererst unsere Vorstellungskraft neu zu trainieren. Wir brauchen konkrete Visionen darüber, wie ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten aussehen könnte.
Diesem Ansatz folgen Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar in ihrem Buch Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. Es ist selbst Resultat einer Suchbewegung des Unterwegsseins. Vielerorts haben die Autor:innen mit lokalen Initiativen und Stadtverwaltungen gesprochen, sich mit Fachexpertinnen und Architekturgrafikern über erstrebenswerte Zukünfte ausgetauscht, in Nischen sozial-ökologischen Engagements Sinn erfahren und Kraft getankt.
„Die Auseinandersetzung mit den weltweit existierenden Realutopien hat uns gezeigt, wie viele Menschen überall schon anpacken, wie viele Lösungen es für nahezu alle Gesellschaftsbereiche bereits gibt und wie schnell die Regeneration der Natur möglich ist, wenn man ihr den Freiraum dafür lässt. Wenn wir uns gesellschaftlich neu ausrichten und an einem Strang ziehen würden, könnten wir in kürzester Zeit eine gewaltige Transformation schaffen“ (S. 165).
Ihr Erfahrungswissen führen Schaller, Zeddies, Scheub und Vollmar in systemischen Entwicklungsszenarien zusammen, über die sie uns in einer imaginierten Reportage aus dem Jahr 2045 Kenntnis geben. Der mäandernde Bericht aus insgesamt 16 Orten in Deutschland und Europa öffnet sich auch für sinnliche Vergegenwärtigung. Jedem Kapitel sind fotorealistische Abbildungen im Großformat beigegeben, welche die heutigen Stadtbilder mit den zukünftigen Potentialen eines lebens- und naturbejahenden Designs kontrastieren. Sie verleihen der Phantasie Flügel und verweben sich mit den Texten zu einem ganzheitlichen Verstehenshorizont, in dem fünf wesentliche Strukturprinzipien Gestalt annehmen:
1) Regeneration als neuer Entwicklungspfad. Hierbei geht es nicht allein um die Heilung ökologischer Schäden, den Aufbau resilienter Topographien und die Wiederbelebung natürlicher CO2-Senken. Es geht auch ganz grundsätzlich darum, die Funktionsmechanismen von Ökosystemen konsequent auf unseren Stoffwechsel mit der Natur zu übertragen. Statt an linearem Ressourcenverbrauch müssen sich unsere Transportströme von Wasser, Nährstoffen und Energie über alle Lebensbereiche hinweg am Leitbild geschlossener Kreisläufe ausrichten. „Ökosysteme machen keinen Müll, beuten niemanden aus und holen sich ihre Energie vollständig aus Sonnenlicht. Und sie schaffen Bedingungen, die das Leben fördern“ (S. 36). Technologische Innovationen können nur dann Hebelwirkungen entfalten, wenn sie nicht zum Selbstzweck werden, sondern sich als Werkzeuge einfügen in den menschlichen Wiederanschluss an naturbasierte Klimalösungen.
2) Partizipative Demokratie und Dezentralität. Grundlegend für die Entwicklung einer regenerativen Kultur ist die Neugestaltung unseres Zusammenlebens im Sinne einer Demokratisierung der Demokratie. Nur wenn alle Institutionen von unten nach oben neu organisiert werden, kann das für partizipative Klimakonzepte unerlässliche Gefühl von Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit entstehen. Zivilgesellschaftliches Engagement und kooperative Quartiersgestaltung machen Nachbarschaften zu Orten für vertrauensvolle Begegnung, konstruktiven Austausch, gegenseitiges Verständnis und Autonomie. Bei übergeordneten Entscheidungen können Möglichkeiten der Mitbestimmung durch ein Zusammenspiel von Bürgerräten, Parlamenten und Volksentscheiden erweitert werden. Auch die postfossile Energiewende lebt von Vielfalt und Gegenseitigkeit. „Es gibt alle möglichen Techniken: Solarbalkone und -fassaden, Kleinwindanlagen, Geothermie, nachbarschaftliche Kalt- und Wärmenetze, Kraft-Wärme-Kopplung oder die Verpachtung von Fassaden und Dächern an Solardienstleister. Alles ist wichtig, alles spielt zusammen. Je dezentraler, desto besser, desto krisenfester. […] Wenn heute meine Solaranlage ausfällt, hat meine Nachbarin garantiert noch Strom übrig. Diese autonomen Energienetze haben auch den menschlichen Zusammenhalt in der ganzen Stadt gestärkt. […] Die städtischen Energieversorger sind heute allesamt in kommunaler Hand […]“ (S. 90 f.).
3) Ökonomie des Wohlergehens. Verantwortungseigentum mit verbindlicher Gemeinwohlbilanzierung könnte auch den privatwirtschaftlichen Bereich in zukunftsfähigere Bahnen lenken. Wenn Aktiengesellschaften nicht länger juristisch verpflichtet wären, Profite für ihre Anteilseigner zu erwirtschaften, würde das zweifellos einen mächtigen Wachstumstreiber neutralisieren. Nicht nur an finanziellen Kennzahlen hätten Unternehmen ihren Erfolg, ihre Steuerbelastung und ihre Kreditwürdigkeit messen zu lassen, sondern vor allem an Maßstäben wie Regenerativität, Menschenwürde, Mitbestimmung und Solidarität. Wirkmächtig wäre das Institut der „ethischen Insolvenz“ (S. 143), also die zwangsweise Unternehmensabwicklung bei anhaltend desaströser Gemeinwohlbilanz. Für die Gestaltung der Arbeitswelt entwerfen Schaller, Zeddies, Scheub und Vollmar ein soziokratisches Organisationsmodell. Es würde unternehmensinterne Hierarchien durch selbstorganisierte Kreise ersetzen, in denen die Verantwortlichkeiten auf egalitär arbeitende und sich untereinander koordinierende Teams verteilt wären. Keine Chefs und keine autoritären Ansagen, dafür Vertrauen, Konsensentscheidungen, selbstbestimme Arbeitszeiten und Gehälter!
4) Eingehegte Finanzwirtschaft. Analytisch beziehen sich die Autor:innen in diesem Punkt auf die autonome Kreditschöpfung durch Geschäftsbanken und die Probleme der daraus resultierenden Finanzialisierung der gesamten Ökonomie. Der Expansionsdynamik der Kapitalmärkte und der spiegelbildlich produzierten Knappheit in der Realwirtschaft soll ein Umbau des Geldsystems entgegenwirken. Er verbindet eine Neuausrichtung des Bankensystems mit gelebter monetärer Vielfalt. Während die großen Konzernbanken zerschlagen und in eine neu gegründete Bank für Gemeinwohl überführt werden, unterliegt die Zentralbankebene dem strengen Mandat stabiler Geldversorgung für die Gesellschaft. „Gemeinwohl statt Wachstum, Stabilität statt Spekulation, Transparenz statt undurchsichtige Investments – das war unsere Devise“ (S. 134 f.). Jenseits des staatlichen Geldmonopols können Privatpersonen und Unternehmen zudem auf ein Netzwerk unterschiedlichster Lokal-, Regional- und Kryptowährungen zurückgreifen, die je nach Transaktionszweck und ideeller Absicht spezifische Vorteile bieten.
5) Steuer- und Bodenreform. Parallel zur Schließung von Steueroasen und zum Abbau klimaschädlicher Subventionen soll eine zielgerichtete Besteuerung von Vermögen und Bodeneigentum eingeführt werden. Damit würden Naturräume entlastet, regenerative Mobilitäts- und Care-Praktiken lohnend, die Spielräume der öffentlichen Hand erweitert und die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens ermöglicht. Zudem – und das betonen die vier Autor:innen – müsste die Bodenreform noch weiter gedacht werden. Da die Erde als Naturgeschenk allen Lebewesen gleichermaßen gehört, sollte konsequenterweise jegliches Privateigentum an Grundstücken und Bodenschätzen aufgehoben werden. Sämtliche Areale könnten vergesellschaftet und Nutzungsrechte im Pachtverfahren vergeben werden. Die laufenden Pachteinnahmen würden in einen öffentlichen Fonds fließen und für Gemeinschaftsaufgaben zur Verfügung stehen.
Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar verstehen ihren Transformationsentwurf erklärtermaßen als offenen und modular erweiterbaren Vorschlag. „Wir haben uns auf einige zentrale Themen fokussiert und nichts oder nur wenig geschrieben über digitale Umwälzungen, die Gleichberechtigung von Frauen, ethnischen und anderen Minderheiten, über die Schließung der gigantischen Gerechtigkeitslücke zwischen Arm und Reich, über die Ressourcenwende, über eine neue internationale Kultur des Friedens und vieles mehr. Wir hoffen, dass andere es uns gleichtun und für viele einzelne Themen Visionen entwickeln, die zu Realitäten werden können“ (S. 164).
Diese Einladung zum Dialog sollte auch von freiwirtschaftlicher Seite angenommen werden. Die Anknüpfungspunkte liegen auf der Hand. Das von Schaller, Zeddies, Scheub und Vollmar vorgetragene Konzept für eine erweiterte Bodenreform harmoniert geradezu wahlverwandtschaftlich mit dem „Freiland“-Gedanken Silvio Gesells (1862-1930). Auf letzteren geht auch die zweite Säule des freiwirtschaftlichen Reformbaus zurück: Eine periodisch anfallende Haltegebühr würde das allgemeine Tauschmittel den nichthortbaren Waren gleichstellen und als umlaufgesichertes „Freigeld“ effektiv mengensteuerbar machen. Dass sich im Ergebnis die durchschnittlichen Kreditzinsen auf einen Satz von null Prozent einpendeln würden, brächte dem Aufbau einer regenerativen Wirtschaft ganz neue Entwicklungsperspektiven und könnte als systemische Unterstützung wirken für die von Schaller, Zeddies, Scheub und Vollmar modellierte Einhegung der Finanzwirtschaft.
Die vier Autor:innen haben eine inspirierende Publikation vorgelegt. Ihre Lektüre führt uns vor Augen, wie sehr wir in der heutigen Gesellschaftsstruktur an unseren Möglichkeiten vorbei leben. Und sie öffnet uns kokreative Lernräume, über die wir ins menschliche Miteinander und in die Verbundenheit mit der Natur zurückkehren können.
Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Welt. Das Buch Zukunftsbilder 2045 weist uns wichtige Schritte nach vorn.