Her mit dem schönen Leben!

Simon Sahner / Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2024, ISBN: 978-3-10-397593-2, 300 Seiten, 24,00 €

Rezension von Markus Henning

Die Funktionslogik von Kapitalismus und fossiler Industriemoderne umfasst mehr als nur das Wirtschaften. Sie prägt Entwicklungspfade von Technologie wie von Institutionen. Sie bildet kulturelle Dynamiken aus, die den Weltzugang auf spezifische Art bestimmen. Instrumentalisierung von Mensch und Natur, Expansionsdrang, Verwertungs- und Produktivitätsdiktate durchdringen den Alltag, die Kommunikation, soziale Beziehungen, ja selbst noch die letzten Sphären der Privatheit.

Hierüber wird der Horizont des Wünschbaren auf eine Verewigung der Gegenwart zugerichtet. Die Subjekte werden in Wissens- und Sprachsysteme hineinsozialisiert, hinter denen die Konturen einer lebensdienlichen Zukunft bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen.

Zu hinterfragen, wie und mit welchen Bedeutungsgehalten die Gesellschaft sich über sich selbst verständigt, birgt daher utopisches Potential.

Auf diese Fährte begibt sich das Buch Die Sprache des Kapitalismus. Es ist im S. Fischer Verlag erschienen und verdankt sich der Zusammenarbeit zwischen dem Kulturwissenschaftler Simon Sahner (geb. 1989) und dem Ökonomen Daniel Stähr (geb. 1990).

Das Ineinanderfließen ihrer Fachdisziplinen folgt dem Gebot der Dringlichkeit. Im Angesicht multipler Krisen braucht es Diskurs- und Gestaltungsräume, in denen Lösungsorientierung wirkmächtig werden kann. Ohne eine Überwindung von Sprachbildern und Narrativen des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus – so die These der beiden Autoren – werden sich entsprechende Räume nicht öffnen lassen. „Wir hoffen, mit diesem Buch dazu beitragen zu können, ein Bewusstsein dafür zu fördern, dass Alternativen zu einer kapitalistischen Lebensweise (im wahrsten Sinne des Wortes) denkbar sind und dass die Herausforderungen, ein gerechteres Wirtschaftssystem zu entwerfen und schließlich umzusetzen, keine Aufgabe ist, die Ökonom*innen, Politiker*innen und Unternehmer*innen überlassen werden kann. Vielmehr sollten wir uns bewusst werden, wie selbstverständlich uns der Kapitalismus erscheint – so sehr, dass wir seine Existenz und sein Wirken wie ein Naturgesetz behandeln. Der Anschein dieser Gesetzmäßigkeit und der kapitalistischen Alternativlosigkeit ist sprachlich konstruiert und kann deswegen auch wieder dekonstruiert werden, um die Folgen der Sprache des Kapitalismus sichtbar zu machen“ (S. 267).

Was wie ein selbst auferlegtes Ablenkungsmanöver wirkt, fußt auf einem ganzen Kosmos von Vokabeln, Begriffsinhalten und Metaphern. In ihnen haben sich realweltliche Machtstrukturen abgelagert, die über den Alltagssprachgebrauch reproduziert und gefestigt werden. Es mag beispielsweise von „Arbeit“, von „Leistungsträgern“ oder von „Unterschichten“ die Rede sein, von „Verdienst“ und „Schulden“, von „Preisfluten“ und „Finanzmarkt-Tsunamis“, von „Systemrelevanz“ oder von einem „too big to fail“. Stets werden im kollektiven Gedächtnis Assoziationen abgerufen, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse verdinglichen. Sie befreien die Privilegierten und ihre Institutionen von individueller Verantwortlichkeit. Sie lassen Geschäftsgelingen als selbstgemacht, Pleiten jedoch als Folgen unpersönlicher Mächte erscheinen. Sie unterlegen Abhängigkeitsverhältnisse mit moralischer Stigmatisierung und drängen die Benachteiligten in Positionen der Passivität.

Das schafft Realitäten, prägt Selbst- und Fremdbilder, fließt in die Mechanismen von Anerkennung oder Ausschluss ein. Und es trägt dazu bei, die Idee vom Glück mit Warenkonsum, beruflichem Erfolg und Aufstieg in der Hierarchie in eins zu setzen – selbst wenn es immer nur dasselbe Hamsterrad ist, das von innen wie eine Karriereleiter aussieht.

Die hegemoniale Kraft dieser Sprachmuster geht mit ihrer Entwicklungsfähigkeit einher. In der Verwendung entstehen sie immer wieder aufs Neue, in einem fortwährenden Anfang, geprägt vor allem von der Perspektive derjenigen, die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung Einfluss haben.

1) Gelehrtensprache. Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften lässt sich beschreiben als ein ideelles Festzurren von Handlungsoptionen. An ihrer Wiege stand der Determinismus physikalischen Denkens. Was Isaac Newton (1643-1727) im Hinblick auf Naturvorgänge entworfen hatte, wurde von den Begründern der Nationalökonomie – etwa von David Hume (1711-1776) oder von Adam Smith (1723-1790) – übertragen auf die kapitalistische Vergesellschaftung. Damit war der noch jungen Zunft ein Anspruch auf den Weg gegeben, dessen Übergriffigkeit bis heute nachwirkt: Das Miteinander in Unternehmungen oder auf Märkten ist in Form universell gültiger Gesetzmäßigkeiten auf den Begriff zu bringen! Ein Paradigma, das auf methodischer Ebene Abstraktion und Mathematisierung begünstigte. Auf Anwendungsebene mündet es seit jeher in Politikempfehlungen, die den Entfaltungsraum menschlichen Verhaltens systematisch begrenzen. Nicht von ungefähr wurde die Sprache ökonomischer Modelle auch mit Fabeln verglichen, die Realismus und Uneindeutigkeit zugunsten ihrer Geschichte opfern.

2) Selbsterzählung. Zum Geschäftsfeld werden wirtschaftspolitische Fiktionen im Portfolio der Kulturindustrie. Die Bandbreite der Filme, Serien und Romane, der Autobiographien und öffentlichen Darstellungen bewegt sich zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite finden sich Appelle zur Selbstoptimierung. Repräsentiert werden sie vom Erzähltypus des Unternehmergenies, welches die Strukturen auf maskulin gelesene Art für sich auszunutzen weiß. „Die hervorgehobenen Attribute, die scheinbar notwendig sind, um in einer kapitalistischen Welt erfolgreich zu sein, sind dieselben Ideale, die einer stereotypen, heterosexuellen Männlichkeit in einer patriarchalen Gesellschaft zugeschrieben werden: Dominanz, Disziplin, Durchsetzungsvermögen, körperliche Stärke und eine rücksichtslos kompetitive Haltung gegenüber anderen (Männern)“ (S. 180). Am entgegensetzten Ende des Spektrums regiert konsumgerechte Betroffenheit und Melancholie. In einem gestischen Antikapitalismus streicheln Produkte der Kulturindustrie die Seelen der Verlierer. „Ein solcher Gestus stärkt die wahrgenommene Alternativlosigkeit, weil selbst aus der Darstellung der unzumutbarsten Zustände keine Utopie erwächst“ (S. 186).

3) Obrigkeitssprache. Im Krisenmanagement des Staates tritt die Intersektionalität von Herrschaft zutage, also die Überschneidung und das Zusammenwirken verschiedenster Diskriminierungsformen. Je angespannter um Legitimität gerungen wird, desto unmittelbarer zielt die Rhetorik auf Entmenschlichung sozialer Gruppen. Auf dem Feld der Tagesaktualität gilt das beispielsweise für die Forderungen nach Anhebung von Rentenalter und Wochenarbeitszeit. Es gilt auch für die Migrationspolitik mit ihren Diskursen über „Fachkräftemangel“, über „gute“ oder „schlechte“ Einwanderung. Verteilungschauvinismus und Nationalstaatlichkeit verbinden sich mit Rassismus und einer klassistischen Nützlichkeitsbewertung aufgrund von (angenommener) Leistungsfähigkeit. Die Wortwendung „Humankapital“ verrät Wesentliches über die Sprache des Kapitalismus: In ihr zählt der Mensch nicht als Individuum, sondern nur als Produktionsfaktor.

4) Klimakatastrophe. Die Dringlichkeit grundlegender Veränderungen lässt Sehnsucht nach Stabilität und Bekanntem wachsen. Eine Paradoxie, die bislang über sprachliche Strategien erfolgreich bedient wird. Sie suggerieren, dass unsere Lebensweise Lösungen biete für die von ihr selbst geschaffenen Probleme. Hierunter fällt ein Unternehmensmarketing, das klimaneutralen Konsum verspricht. Hierunter fällt eine Wirtschaftswissenschaft, welche die Zerstörung biophysischer Existenzgrundlagen preislich abbilden will und entsprechende Lösungskorridore über Umweltsteuern modelliert. Und hierunter fällt die politische Rede von „Technologieoffenheit“ und „Grünem“ Wachstum. „Dass dieses Sprachsystem, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat, ausgerechnet beim Thema Klimakrise seine gesamte Kraft entfaltet, ist kein Zufall. Die Klimakatastrophe bedroht das Wachstumscredo, das für den Kapitalismus überlebensnotwendig ist. […] In der Sprache des Kapitalismus tritt die Verteidigung dieser Wachstumslogik unzweideutig hervor“ (S. 246).

5) Postkapitalismus. Statt an Rezepten der Vergangenheit festzuhalten, gilt es, im Jetzt und seinen weiterhin existierenden Möglichkeiten anzukommen. An einer Neujustierung der Kompassnadeln besteht durchaus Interesse. Simon Sahner und Daniel Stähr verweisen auf Geschichten über postkapitalistische Zukünfte und deren Erfolg im Literaturbetrieb. Darunter finden sich Longseller aus der anarchistischen Ideentradition (z.B. Ursula K. Le Guin: The Dispossessed, 1974; mehrere deutsche Übersetzungen, zuletzt 2017 unter dem Titel Freie Geister). Es finden sich aber auch neueste Verkaufsschlager wie die Vision eines Degrowth-Kommunismus mit lokal und gemeinschaftlich verwalteter Produktion (Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, 2023). Handlungsmotivierende Diesseitigkeit entfalten Utopien allerdings erst, wenn sie auf den Emanzipationsanspruch von Gegenkulturen treffen. Das Medium, in dem sich Subjektivitäten, Bedürfnisse, Wünsche und Affekte verändern, ist die Praxis des Beginnens. Getragen von einer Sprache der Gegenseitigen Hilfe, der Liebe und Wertschätzung können kooperative Organisationsformate als Probebühnen der Wissens- und Welterschaffung entstehen.

Gelingen kann die sozial-ökologische Transformation nur mit einer Ethik des „Wir-Selbst“. Vom Erproben eines besseren, eines herrschaftsfreieren und einträchtigeren Lebens hängt alles ab. Die Sprache des Kapitalismus von Simon Sahner und Daniel Stähr kann uns dabei helfen. Es ist ein wichtiges Buch, dem wir weite Verbreitung wünschen.

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