Neustart als gemeinschaftliches Erlebnis

Katja Diehl: Raus aus der AUTOkratie – rein in die Mobilität von morgen!, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2024, ISBN 978-3-10-397577-2, 352 Seiten, 20,00 €

Rezension von Markus Henning

Ein wesentliches Strukturmerkmal von Gesellschaften ist das Unterwegssein. Es folgt Macht- und Herrschaftsverhältnissen, es verteilt Lebenschancen, prägt Subjektivierungen und mögliche Zukünfte.

Dass es sich im Globalen Norden schon früh mit dem Konsumgut Pkw verband, resultiert aus der Verschränkung von Erdölindustrie, Kraftfahrzeugbau, Infrastruktur- und Verkehrspolitik. Deren Zusammenwirken dominiert das Mobilitätsgeschehen bis heute. Trotz seiner Verantwortung für Landschaftsfraß und Versiegelung, für Luftverschmutzung und steigende Treibhausgas-Emissionen. Trotz Mikroplastik- und Lärmbelastung. Trotz der Unwirtlichkeit hoch frequentierter Autozonen. Trotz Benachteiligung von Menschen, die sich gewollt oder ungewollt jenseits motorisierter Normen bewegen. Trotz Legionen von Unfallopfern und trotz aller Dysfunktionalität (Stichwort: „Hypermobiler Stillstand“).

Die Beharrungskräfte dieser Ordnung sind mächtig. Mit Kritik allein ist ihnen nicht beizukommen. Auswege kann nur eine Praxis weisen, die aus sich selbst heraus Wirksamkeit erzeugt, die also direkt damit beginnt, Mobilität um das gute Leben für alle herum zu organisieren. Erst durch erlebbare Beispiele können sich Routinen und Blickwinkel verändern, Denk- und Handlungsblockaden lösen.

Uns dergestalt zu Subjekten des Wandels zu machen, ist das Anliegen von Katja Diehl (geb. 1973). Ihr neues Buch ist im Frankfurter S. Fischer Verlag erschienen und trägt den Titel Raus aus der AUTOkratie – rein in die Mobilität von morgen!

Katja Diehl ist Botschafterin für Projekte der Verkehrswende. Sie weiß um die Bedeutung des Systemischen und kennt die Inspirationskraft von Sozialutopien. In über 100 Interviews hat sie mit Expert:innen aus dem In- und Ausland den Status quo unserer Mobilität ausgeleuchtet, hat Ziele und Dimensionen der Neugestaltung in den Blick genommen. In der Gesamtschau konturiert sich das Bild einer Transformation, die weit ins Gesellschaftliche, ins Ökonomische wie ins Politische ausgreift.

1) Wiederbelebung. Grund und Boden sind endliche Ressourcen. Ihre Zurichtung auf den motorisierten Individualverkehr ging auf Kosten des Sozialen. Und sie ging auf Kosten des menschlichen Maßes. An die Stelle von Geselligkeitsorten traten Aufbewahrungs- und Fahrflächen für private Automobile. So wie Nachbarschaften zu Transitpassagen verkamen, wurden Wohn-, Arbeits- und Konsumstätten auseinandergerissen. Über Jahrzehnte richteten sich Siedlungs- sowie Landschaftsplanung nicht an Aufenthaltsgüte, sondern an Entfernungsintensität und Geschwindigkeit aus. „Diese Denke und vor allem aber auch das gestalterische Handeln, das von dieser geprägt wurde, machten öffentliche Räume zu einem Spiegel des Kapitalismus. Manche sprechen daher auch von ‚carpitalism‘. Die Straße wurde endgültig zum individualisierten Raum für Autofahrende, sie verband die nun getrennten Funktionsbereiche ähnlich den Fließbändern einer Fabrik“ (S. 78 f.). Eine Rücknahme von Wegstrecken kann dem Verwertungs- und Wachstumszwang in die Speichen greifen. Möglich wird das, wenn die Raumkonkurrenten des Autos aus ihrer Randständigkeit heraustreten und Flächengerechtigkeit ins Werk setzen. Es geht um Entschleunigung und die Revitalisierung von Nahbereichen, um die Nutzungsdurchmischung von Quartieren, um Dezentralität und Verdichtung von Versorgungsinfrastrukturen. „Ich glaube an eine kommunale, regional verankerte Veränderung mit Unternehmen, die vor Ort Wertschöpfung betreiben, mit Menschen, die direkt vor der Haustür Räume für sich zurückerobern. Schauen Sie, wer hier in Ihrer Nachbar:innenschaft Ähnliches möchte, schließen Sie sich zusammen zu wirksamen Banden. Veränderung macht Spaß!“ (S. 338 f.).

2) Entgiftung. Im Mobilitätssektor gehören Ressourcenschonung und Dekarbonisierung zu den dringlichsten Aufgaben. Neben der Vermeidung (durch polyzentrische Raumgestaltung) lassen sich dafür – in der Reihenfolge eines abnehmenden Wirkungsgrades – zwei weitere Hebel identifizieren: Zum einen die Verlagerung (auf umweltschonende Transportmittel), zum anderen die Verbesserung (mittels Technikinnovationen). Über eine Interaktion von Zivilgesellschaft und Kommunalverwaltungen sind auch für die beiden letztgenannten Bereiche Experimentierfelder zu öffnen. Über Maßnahmen wie Mautsysteme an Stadtgrenzen, Tempo 20-Zonen, „Kiez-Blocks“ ohne Durchgangsverkehr und die Umwidmung von Parkplätzen kann eine von Auto-Privilegien befreite Lebenswelt erprobt werden. In ihr fördern attraktive Angebote das Zu-Fuß-Gehen und das Radeln, Fahrgemeinschaften und Öffentlichen Verkehr. Veränderungskraft spricht Katja Diehl insbesondere der Radverkehrsförderung zu. Sie gehört zu den Lösungen, „[…] die am schnellsten ausbaufähig sind, weil sie bei Etablierung von Flächengerechtigkeit noch nicht mal großer Infrastrukturmaßnahmen und staatlicher Gelder bedürfen“ (S. 189). Wichtig ist die Verbindung von Inseln des Gelingens über Urbanität, Vorstädte und Speckgürtel hinweg. In Zeiten des E-Bikes sind Radschnellwege und öffentlicher Fahrradverleih Mittel der Wahl. Modulare Systeme mit Sharing-Stationen, On-Demand-Shuttles und Plattformen für Mobilitäts-Dienstleistungen können auch auf dem Lande neue Bewegungsmuster vorwegnehmen: „[…] smart, vernetzt, digital, elektrisch und emissionsfrei. In Zukunft werden Menschen immer weniger ein eigenes Fahrzeug selbst besitzen und fahren“ (Claudia Kemfert, zit. in: S. 125).

3) Ausgleich. Die Emanzipation vom Automobilismus ist ein Motor sozialer Teilhabe. Besonders für vulnerable und marginalisierte Gruppen (Kinder; Jugendliche; Frauen; Alte; Menschen mit Einschränkungen; Menschen in Armut; People of Color; queere Menschen usw.). Sie leiden bislang am meisten unter dem Mangel an inklusiven und klimagerechten Mobilitäts-Angeboten. Schon viel zu lange werden die Weichen im Verkehrswesen petromaskulin ausgerichtet: „Die Alternativlosigkeit eines Produkts bewusst herzustellen, indem alle Alternativen geschwächt oder gar abgeschafft werden – und dann das Auto noch weiter zu verbreiten, weil es in so vielen Regionen alternativlos ist, das ist schon eine fossil-kapitalistische Meisterleistung. Die ohne die Kompliz:innenschaft von Politik und Gesellschaft nicht möglich gewesen wäre“ (S. 65). Nur wenn andere Zugänge zur Mobilität schon heute Stimme und Gestaltungsmacht erlangen, lässt sich eine Zukunft gewinnen, in welcher dem Auto nur noch eine ergänzende Rolle zukommt. Diversität und „Female Mobility“ sind Gerechtigkeitsprojekte für ein selbstbestimmtes Leben. „Gut ausgebauter, verlässlicher Nahverkehr, sichere, komfortable Radwege, all das würde Menschen mobilisieren, die sich heute kein Auto leisten können, und Menschen von einem hohen Geldbetrag befreien, den sie im Monat für ihr Auto ausgeben müssen“ (S. 127).

4) Begegnung. Wo sich Kraftfahrende in ihren Blechhüllen vom Sozialen abschotten, setzt die Verkehrswende auf eine Rückkehr ins menschliche Miteinander. Beim Unterwegssein geht es eben nicht nur um Start- und Zielpunkte. Die Kunst besteht in der Suchbewegung, in der überraschenden Weltkonfrontation als Kritik am Leerlauf bloßen Funktionierens. Und wenn Wohngebiete von Autos geräumt sind, entstehen auch im Fußläufigen der Nachbarschaft neue Perspektiven für Zusammenkünfte, für Kooperation und Engagement. Es entsteht „[…] Raum für Begegnungen, für das Kennenlernen anderer Lebensentwürfe und für das Loslassen der Angst vor der/dem/den Fremden, die gerade zu viele von uns in die Arme rechter Parteien treibt. Es gibt keinen Grund mehr für diese Angst, wenn wir uns begegnen. Und diese bereichernden Begegnungen schafft, wer den Menschen in den Fokus nimmt“ (S. 11). Ambivalenz-Toleranz besteht in der Fähigkeit, die Vielfalt an Identitäten nicht nur zu erleben, sondern auch als gleichberechtigt anzuerkennen. Diese Fähigkeit wird durch die Neugestaltung unserer Mobilität geschult. In einer Zeit, in welcher Rassismus, Queerfeindlichkeit und Neofaschismus nach Hegemonie greifen, kann das zu einer Überlebensfrage der Demokratie werden.

Raus aus der AUTOkratie – rein in die Mobilität von morgen! ist eine Streitschrift im besten Sinne des Wortes. Sie liefert weit mehr als Oberflächenimpressionen. Sie geht in die Tiefenanalyse partizipativer Aktionsforschung. Und sie gibt uns eine entscheidende Handlungsempfehlung: Wenn wir ein gutes Leben wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen, selbst zur Tat schreiten und kollektive Lernorte schaffen. Das ist wichtiger denn je! Wir wünschen Katja Diehl mit diesem Buch größtmöglichen Erfolg.

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