Über die Freiwirtschaft zum guten Leben für alle

Georg Blumenthal: Die Befreiung von der Geld- und Zins-Herrschaft. Ein neuer Weg zur Ueberwindung des Kapitalismus, Reproduktion der 1. Auflage von 1916, herausgegeben von Anselm Rapp, Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2024, ISBN 978-3-7597-2047-4, 108 Seiten, 8,99 €

Rezension von Markus Henning

Utopisches Denken will trainiert sein. Ohne Übung verfehlen wir unsere Möglichkeiten, steuern geradewegs in Klimakatastrophe und Barbarei. Die Zukunft zu gewinnen, erfordert Bestandsaufnahmen, die sich der Wirklichkeit, ihrer Komplexität und Vielfalt öffnen. Es setzt Gesellschaftsentwürfe voraus, die dem Universalismus der Menschenrechte ebenso Genüge tun wie dem sozial-ökologischen Umbau unserer Produktions- und Konsumweisen. Nur wenn das Engagement der Zivilgesellschaft von einem hoffnungsvollen Erwartungshorizont umfasst wird, lässt sich der Neofaschismus wieder in die Schranken weisen. Aktuell greift letzterer auch hierzulande nach kultureller Hegemonie und politischer Herrschaft: In Gestalt der AfD als Sammelbecken alles Rechtsradikalen, Rassistischen und Queerfeindlichen nebst ihrer völkisch-autoritären Wählerschaft.

Höchste Zeit also für eine Neuentdeckung unvollendeter Gerechtigkeitsversprechen und Emanzipationsbegehren, die die falschen Gewissheiten der Gegenwart herausfordern. Dazu lohnt auch der Blick in die Vergangenheit. Nicht, um eigene Anschauungen bloß zu bestätigen, sondern um sich inspirieren zu lassen und bislang Übersehenes oder Provisorisches weiterzudenken.

Zur Diskursbereicherung kommt dem Wiederverfügbarmachen historischer Grundlagentexte somit Bedeutung zu. In die Ära freiwirtschaftlicher Selbstfindung lädt uns eine Abhandlung aus dem Jahr 1916 ein, die jetzt von Anselm Rapp (geb. 1942) reproduziert und bei Books on Demand veröffentlicht wurde. Sie trägt den Titel Die Befreiung von der Geld- und Zinsherrschaft. Ein neuer Weg zur Ueberwindung des Kapitalismus. Ihr Verfasser war Rapps Großvater Georg Blumenthal (1872-1929).

Dass mit der Person Blumenthals auch ein antiautoritäres Sozialismusverständnis an der Wiege der Freiwirtschaft stand, ist weitgehend vergessen. Die Wahrnehmung hat sich auf Leben und Schaffen von Silvio Gesell (1862-1930) fokussiert, dessen Hauptwerk Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld ebenfalls 1916 erschien und bis heute als Gründungsdokument gilt. Dabei war Blumenthal bereits 1906 Gesells erster und engster Mitarbeiter geworden. Bis Mitte der 1920er Jahre prägte er die Freiwirtschaftsbewegung als Verlagsleiter, Publizist und Vortragsredner, stets darauf bedacht, auch in libertär-proletarische Kreise hinein zu wirken. Blumenthal selbst war gelernter Tischler. Schon als junger Handwerker im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts war er auf den Pfaden des Anarchismus gewandelt. Indem er dessen Vision einer solidarischen Ordnung ohne Herrschaft und Staat jetzt mit den Reformkonzepten der Freiwirtschaft verband, legte Blumenthal Spuren für die Zukunft.

Auf diesen Spuren fragend voranzuschreiten: Dafür öffnet die Neuauflage von Blumenthals Schrift Die Befreiung von der Geld- und Zinsherrschaft uns Heutigen ein Möglichkeitsfenster. Wir sollten es weit aufstoßen. Denn uns begegnet ein Autor, der weit und systemisch denkt. Das Projekt einer nichtkapitalistischen Marktwirtschaft greift für Blumenthal deutlich über die Sphäre des Ökonomischen hinaus. Es ist ein Projekt umfassender Emanzipation. Im Prozess seiner Verwirklichung zielt es – und diese Lesart wollen wir hier vertreten – auf einen Wandel der Kultur, auf sich verändernde Subjektivitäten, Wünsche, Bedürfnisse und Affekte, auf ein kooperatives und befriedetes Dasein in der Welt.

1) Tauschsozialismus und Neu-Physiokratie. Blumenthal modelliert das Wirtschaften der Zukunft als tätige Begegnung auf Augenhöhe. Aus dieser tauschsozialistischen Perspektive – eine Erbschaft von Vordenkern wie dem Genossenschaftsgründer Robert Owen (1771-1858) oder dem Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) – nimmt er die Ausbeutungsbastionen des Kapitalismus in den Blick. Da ist zum einen die strukturell-fehlerhafte Verfasstheit der Zirkulationsverhältnisse. In ihnen ist der Umlauf von Waren und Arbeit abhängig von einem Zahlungsmittel, das sich zum Selbstzweck erhebt. Seine Vermehrung, d.h. die Rate seines Zinsertrages, wird zur Bedingung und zur Schranke für alle Investition, für alle Produktion und allen Handel, ja für das Leben insgesamt. „Die ganze Volkswirtschaft beruht auf der Gegenseitigkeit des Austausches, alle müssen sich gegenseitig dienen, um ihre Bedürfnisse wechselseitig befriedigen zu können: Wo aber alle dienen, soll da das Geld herrschen?“ (S. 64). Zum anderen ist da die strukturell-fehlerhafte Verfasstheit der Grund- und Bodenordnung. Aufgrund landschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Gegebenheiten haben Areale unterschiedliche Ertragspotentiale. Als leistungsloses Einkommen schlägt sich deren Differenz in unterschiedlicher Höhe der Grundrenten nieder, die Pächter bzw. Mieter regelmäßig zu entrichten haben. „Die ‚Ausbeutung‘ liegt hier nicht im Vorhandensein der Grundrente, sondern darin, daß sie immer nur den jeweiligen Eigentümern des Erdbodens zufällt und nicht der Allgemeinheit, die sie doch erzeugt und auch das gleiche Anrecht auf die natürlichen Vorzüge des Bodens hat“ (S. 37). Was hier neben dem Tauschsozialismus widerhallt, ist das Echo der Physiokratie als weiterer Traditionslinie in Blumenthals Denken. Im Frankreich der Aufklärungszeit entstanden, hatte die Physiokratie ihr naturrechtlich-ökonomisches Schulgebäude auf der These von Grund und Boden als der einzigen Wohlstandsquelle aufgebaut. Schon seit den späten 1860er Jahren wurde diese Sichtweise im Diskurs des kollektivistischen Anarchismus aufgegriffen und sozialrevolutionär gewendet: Begrenzte und nicht durch menschliche Arbeit hergestellte Ressourcen wie Boden, Luft, Licht oder Wasser seien ausnahmslos zu vergesellschaften. Nur wenn sie der absoluten Verfügungsgewalt des Privateigentums entzogen sei, könne die Erde vorausschauend bewirtschaftet werden, unter Mitentscheidung aller Gesellschaftsglieder und zum Wohle auch der kommenden Generationen. Ein Gesichtspunkt, dem ebenso Blumenthal folgt, wenn er den willkürlichen Gebrauch „[…] von Erdboden und Naturschätzen […]“ (S. 71) als Strukturproblem des Kapitalismus benennt und sein eigenes Reformziel als „[…] physiokratische (natürliche) Ordnung der Dinge […]“ (S. 85) projektiert.

2) Geld- und Bodenreform. Klarheit in das Wahrgenommene zu bringen, ist Grundlage jeder Veränderung zum Guten. Entsprechend fächert sich auch Blumenthals Transformationsszenario in zwei komplementäre Stränge auf. Beide verbinden auf je eigene Weise eine zielgenaue Strukturänderung mit der Dynamik von Marktprozessen. Geldreformerisch geht es darum, dem allgemeinen Tauschmedium seine Wertaufbewahrungsfunktion zu nehmen. Eine periodisch anfallende Haltegebühr soll das Geld unter Angebotsdruck bzw. Umlaufzwang setzen und effektiv mengensteuerbar machen. „Und dieses beständige Geldangebot und der damit zusammenfallende ungestörte Vollbetrieb der Volkswirtschaft führt schließlich das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Darlehens- und Kapitalmarkt herbei, welches sich in einem beständig sinkenden Zinsfuße bis auf Null-Prozent, also in der Unentgeltlichkeit (Zinsfreiheit) aller Darlehen und Kredite ausdrückt“ (S. 74 f.). Da sich der gesamte ökonomische Verkehr entlang von Kreditverhältnissen strukturiert, sinkt durch abnehmende Zinsraten der Renditedruck auch für alle anderen Wirtschaftsgüter. Bodenreformerisch geht es um die Überführung sämtlicher Grundstücke und Naturressourcen in öffentliches Eigentum. Im Rahmen sozial-ökologischer Vorgaben und direktdemokratischer Aushandlung könnte die Vergabe von Nutzungsrechten im Meistbietungsverfahren erfolgen. Die eingehenden Pachterträge sollen zu gleichen und gerechten Teilen an die Allgemeinheit ausgeschüttet werden. „Erst beide Reformen zusammen sind imstande, das ganze arbeitslose Einkommen, die ganze sogenannte ‚Ausbeutung‘ zu beseitigen und jedem den vollen Arbeitsertrag zu verschaffen“ (S. 95).

3) Wohlstand und Nachhaltigkeit. Die Entkapitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ist keine Sache des Staates, kein Resultat von Planung, von Dekreten, von Befehl oder Gehorsam. Als dynamischer Prozess der in Strukturreformen eingebetteten Selbsttätigkeit ist sie Weg und Ziel in einem. Das können wir von Georg Blumenthal auch nach mehr als 100 Jahren lernen. Bei ihm scheint keine starre Ordnung auf, sondern Mehrdimensionalität und Perspektivenfülle. Das bietet Anknüpfungspunkte für aktuelle Problemlagen. Eine von Konjunkturhemmungen befreite Privatwirtschaft ist bei weitem nicht der einzige Aspekt, den Blumenthal diskutiert. Was ihn am neu-physiokratischen Zukunftsbau interessiert, ist die Überwindung des Raubbaus an menschlicher und nicht-menschlichen Natur. Das Absinken von Fremd- und Eigenkapitalzinsen weitet den Raum für ein neues Arbeitsdesign, für betriebliche Demokratie, für Belegschaftsübernahmen oder Genossenschaftsgründungen. Und es befördert sozial-ökologische Investments: „Was muß z.B. heute alles unterbleiben, weil es sich nicht ‚rentiert‘, und was könnte morgen alles in Angriff genommen werden, wenn es sich nicht zu rentieren, sondern nur die Kosten, nur die Löhne zu decken brauchte!“ (S. 94). Verwertungs- und Wachstumszwänge werden durch eine Kultur der Selbstbegrenzung, durch eine neue Ästhetik und Sensibilität, durch einen Wiederanschluss an die Mitwelt ersetzt. „Man wird sich früher zur Ruhe setzen, sich mehr seinen Kindern widmen, die Arbeitszeit verkürzen und sich nebenbei nach Wunsch und Neigung betätigen. […] Das ganze Land wird überhaupt allmählich den Charakter einer großen Gartenstadt von ungeheuren Dimensionen annehmen!“ (S. 93). Es ist an uns, aus dieser Vision Bausteine der Wissens- und Welterschaffung zu formen. Sie können uns helfen, den Folgen des seit Jahrzehnten waltenden Neoliberalismus in emanzipatorischem Engagement zu begegnen.

Ohne Gefährten, die in finsteren Zeiten das Licht verkörpern, verlieren wir leicht die Orientierung. Solche Gefährten können auch Bücher sein. Georg Blumenthals Die Befreiung von der Geld- und Zinsherrschaft gehört dazu. Wir wünschen seinem Herausgeber viel Erfolg mit dieser Neuauflage.

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